Otto Quadbeck (83) liess sich mit 60 pensionieren, um Psychologie zu studieren. Zuvor war er Bankdirektor. In seinem Buch «Das 'Empty-Desk-Syndrom': Die Leere nach der Pensionierung: Wie Führungskräfte nach Beendigung der Erwerbsarbeit ihre psychischen Probleme bewältigen'» geht er dem Syndrom nach und zeigt, wie es vermieden und bewältigt werden kann.Quartierplus dankt Otto Quadbeck für das Interview.
Bleibt der Büro-Schreibtisch nach der Pensionierung leer, entsteht bei Rentnern oft ein Gefühl der Nutzlosigkeit, Überflüssigkeit und Abwertung. Was ist das Empty-Desk-Syndrom? Und wie wird ihm vorgebeugt?
Otto Quadbeck, was ist das Empty-Desk-Syndrom?
Es tritt beim Übergang in den Ruhestand auf. Fallen die zeitlichen und sozialen Strukturen der Arbeit weg, kann ein Gefühl der Nutzlosigkeit, der Überflüssigkeit, des Versagens, der Minderwertigkeit entstehen. In meiner Untersuchung bei Führungskräften war etwa ein Drittel der Befragten betroffen. Man hat dann das Gefühl, ein Niemand geworden zu sein. Oft folgen Konflikte mit der Partnerin, die sich von ihrem pensionierten Mann zuhause in ihrem Tagesrhythmus und ihren Funktionen als Hausherrin beeinträchtigt fühlt. Das Empty-Desk-Syndrom drückt sich dann in erhöhtem Alkohol- oder Tablettenkonsum, in Minderwertigkeitsproblemen, in Streitsucht, in sozialem Rückzug oder Hyperaktivität oder in Depressionen aus. Ehescheidungen sind nicht selten. Pensionierte Männer haben eine der höchsten Suizidraten.
Betrifft das Empty-Desk-Syndrom nur Männer?
Nein, der Übergang in den Ruhestand erweist sich für die meisten Menschen als ein kritisches Lebensereignis, so auch für viele Frauen, obwohl ihnen der Erhalt der häuslichen Funktionen weiterhilft. Mütter leiden dagegen nicht selten in analoger Weise unter dem bekannten „Empty-Nest-Syndrom“, wenn die Kinder das Haus verlassen haben.
Wie kann dem Empty-Desk-Syndrom vorgebeugt werden?
Es geht darum, rechtzeitig einen neuen Inhalt und Sinn des Lebens zu finden, als Person neue Rollen zu übernehmen, soziale Verbindungen zu pflegen und auszubauen, ein neues Gleichgewicht mit dem Partner zum Beispiel hinsichtlich Autonomie und Bindung zu vereinbaren. Menschen werden in ihrem Leben durch ihren Beruf, ihre Position, ihr soziales Umfeld, ihre Erfahrungen geprägt. Niemand kann sich von heute auf morgen umstellen. Pensionierung ist eine Entwicklungsaufgabe. Leider ist es ein Irrtum zu denken, die Pensionszeit sei ein Paradies, ein immerwährender Urlaub, in dem man auf Dauer und nach Belieben ausschlafen, faulenzen, nicht tun und sich nur seiner Familie widmen kann.
Ist es denn nicht so?
Meine Befragungen zeigten, dass der Pensionierung in der Regel zwar eine Honeymoon-Phase von drei bis sechs Monaten folgt. Danach aber verflüchtigen sich die Hochgefühle und weichen den oben genannten Gefühlen und oft psychischen Problemen.
Was kann ich konkret tun, um mich weniger nutzlos zu fühlen?
Erst mal müssen Sie sich der Problematik bewusst werden. Um neuen Lebenssinn und neue Aktivitäten zu finden, fragen Sie sich doch einmal, was Sie als Heranwachsender oder in ihrem Leben eigentlich schon immer einmal machen wollten. Fragen Sie Ihre Freunde. Die kennen Sie oft besser als Sie selbst. Was traut man ihnen noch zu? Welche Begabungen sind in Ihrem Leben nicht zum Zuge gekommen? Oder tun Sie sich nach Möglichkeit mit anderen zusammen. Überlegen Sie gemeinsam, was Sie gemeinsam mit der neuen Lebensphase anfangen könnten. Einige Pensionisten haben sogar eine „Scheinfirm“ zu diesem Zweck gegründet. Sie üben verschiedene Rollen aus und bereiten zum Beispiel Vorträge zu verschiedenen Themen vor. Das wäre der soziale Ansatz.
Sie erwähnen auch einen psychologischen Ansatz
Machen Sie sich bewusst, was Sie in Ihrem Leben alles geleistet haben. Welche Hindernisse Sie überspringen konnten? Was hat Sie in Ihrem Leben stärker gemacht? Welche Rollen haben Sie in Ihrem Leben eingenommen? Wer und was haben Sie in traurigen Stunden immer wieder auf die Beine gebracht? Schaffen Sie Ordnung in Ihrer Zeit, pro Tag, pro Monat, pro Jahr. Etablieren Sie neue Rituale und Gewohnheiten. Versuche Sie, sich selbst zu managen. Schafen Sie neue Person-Umwelt-Gleichgewichte, arbeiten Sie mit Ihrem Partner:in an dem Problem „Bindung versus Autonomie“. Und ganz wichtig: Fragen Sie und lernen Sie. Fragen Sie sich, was die Welt im Innersten zusammenhält. Strengen Sie Ihren Kopf an. Schaffen Sie neue Synapsen! Sie verhindern oder verlangsamen damit degenerative Abbauprozesse.
Also Sudokus lösen?
Das hält das Gehirn nur bedingt munter. Das Gehirn arbeitet sehr ökonomisch. Bei Herausforderungen versucht es stets, den sparsamsten Weg zu nehmen oder sich auf Vorgedachtes zu stützen. Wenn ich schon weiss, wie ein Kreuzworträtsel zu lösen ist, dann fordert das zehnte Kreuzworträtsel das Gehirn nicht mehr heraus. Wenn man schon 20 Jahre Bridge spielt, werden auch immer die gleichen Hirnzellen beansprucht. Man sollte dann unbedingt etwas anderes lernen. Das Gehirn benötigt Abwechslung und neue Synapsen.
Sie selbst haben, nach einer erfolgreichen Karriere, mit 60 Jahren ein Psychologiestudium begonnen. Warum?
Ich habe damit einen alten Traum weiter verfolgt. Dieses Studium hat mir viel Freude gemacht und viele neue Erkenntnis über den Menschen gebracht. Es hat mich aber auch in besonderer Weise gefordert, weil ich als Grossvater mit Enkeln zusammen studiert habe. Meine Studienkolleginnen waren 20, ich war 60. Da waren schon einige Anpassungen meinerseits und ein gutes Einfühlungsvermögen nötig. Ich bin sehr froh und dankbar, dass mir dies gelungen ist, dass ich von der jungen Generation akzeptiert wurde.
In der Abschlussarbeit beschäftigten Sie sich mit dem Empty-Desk-Syndrom. Litten Sie selbst daran?
Ich hatte kein echtes Empty-Desk-Syndrom. Durch meine Führungserfahrung und der intensiven Befassung mit diesem Thema sind mir psychische Probleme dieser Art während des Studiums erspart geblieben. Und nach dem Studium hatte ich Gelegenheit zu Vorträgen und meine Studien privat fortzusetzen.
Bereits 2008 kam Ihr Buch heraus. Sie prägten damit den Begriff des Empty-Desk-Syndroms im deutschsprachigen Raum.
Leider war die Zeit damals noch nicht reif dafür. Ich wollte Seminare zur Pensionierungsvorbereitung anbieten. Aber viele Menschen waren der Meinung, sie bräuchten das nicht, sie hätten Hobbys und nun endlich Zeit für Familie und das Reisen. Alles Vorstellungen, die nicht realistisch sind. Heute ist man zum Glück weiter.
Was kam nach der Psychologie?
Ich habe Vorträge gehalten und angefangen Spanisch zu lernen. Und jeden Morgen laufe ich zwei bis vier Kilometer Nordic-Walking. Das tut mir physisch und psychisch sehr gut. Was übrigens das Thema Gesundheit betrifft: Treffen sich ältere Menschen, dann reden sie meist über ihre Krankheiten. Dabei sollte man sich viel besser fragen: Was habe ich noch an Gesundheit in mir? Was kann ich noch? Dieser positive Ansatz der Psychologie ist enorm wichtig für das Alter und die Pensionszeit.
Und noch ein persönlicher Rat zu Letzt: Schreiben Sie an jedem Abend die schönen Ereignisse, Gefühle, Erfahrungen des Tages auf und lesen Sie sie dreimal.
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