26 Januar 2024

«Man lebt nicht, wenn man nicht für etwas lebt.»

Robert Walser ist tot
Robert Walser: der Schriftsteller Biels Robert Walser (1878-1956) ist nicht nur der bedeutendste Schriftsteller von Biel, sondern gehört zu den rätselhaftesten Autoren seiner Zeit. Er war das zweitjüngste von acht Kindern des Buchbinders und Werkstattinhabers für Papeteriewaren und Bilderrahmen Adolf Walser (1833–1914) und seiner gemütskranken Frau Elisabeth Walser (1839–1894). Robert Walser absolvierte eine Banklehre, nachdem er das Gymnasium wegen prekärer finanzieller Probleme seines Vaters verlassen musste.

Bereits in jungen Jahren begeisterte er sich fürs Theater, er versuchte jedoch vergeblich, Schauspieler zu werden. In der Zeit danach führte er ein unstetes Leben, zog von Ort zu Ort, von Stelle zu Stelle. In Basel arbeitete er auf einer Bank, dann zog es ihn zu seinem Bruder Karl, Kunstmaler und Bühnenbildner, nach Stuttgart. Dort arbeitete er bei der Union Deutsche Verlagsgesellschaft als Schreiber in der Inseratenabteilung. Danach wanderte er zu Fuss in die Schweiz zurück und arbeitete in Zürich als Büroangestellter und Schreibkraft.

1898 veröffentlichte Joseph Viktor Widmann (1842–1911), Literaturkritiker und Feuilletonredaktor der Berner Tageszeitung Der Bund, sechs von Walsers Gedichten im Sonntagsblatt des Bunds. Franz Blei, dadurch auf ihn aufmerksam geworden, führte ihn 1899 in den vom Jugendstil geprägten Kreis um die Zeitschrift Die Insel ein. In der Insel erschienen in der Folge Gedichte, Dramoletten und einzelne Prosastücke Walsers.

Im Spätsommer 1905 absolvierte er in Berlin einen Kurs zur Ausbildung als Diener und liess sich als solcher im Herbst 1905 einige Monate auf Schloss Dambrau in Oberschlesien anstellen. Die Thematik des Dienens wird in der Folge sein Werk durchziehen – besonders ausgeprägt in seinem Roman Jakob von Gunten (1909). Anfang 1906 ging Robert Walser wieder nach Berlin, wo ihm sein Bruder Karl Walser, der dort schon einige Zeit als Maler, Buchgrafiker und Bühnenbildner lebte, Zugang zu Literaten-, Verleger- und Theaterkreisen eröffnete. Zeitweise arbeitete Walser als Sekretär der Künstlervereinigung Berliner Secession. In Berlin schrieb Walser den Roman Geschwister Tanner  innerhalb von sechs Wochen nieder; er wurde 1907 veröffentlicht. Sein zweiter Roman Der Gehülfe folgte 1908, im Jahr darauf der Roman Jakob von Gunten. Neben den Romanen schrieb er in dieser Zeit Prosastücke, in denen er sprachspielerisch und sehr subjektiv aus der Sicht eines ärmlichen Flaneurs populäre Lokale wie beispielsweise das «Aschinger»  oder die «Gebirgshallen» skizziert. Die Romane und Prosastücke – die unter anderem in der Schaubühne, in der Neuen Rundschau, in der Zukunft, in der Rheinlande, in der Neuen Zürcher Zeitung und in Der neue Merkur erschienen – fanden eine sehr positive Aufnahme. Walser hatte sich im Literaturbetrieb etabliert.

Kleine Prosastücke publizierte Robert Walser in Zeitungen und Zeitschriften. Diese «kleine Form» sollte zu seinem Markenzeichen werden. Der grösste Teil seines Werks besteht aus solchen Prosastücken – literarischen Skizzen, die sich einer genaueren Kategorisierung entziehen. 
Mit seinen drei Romanen Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909) erzielte er zwar einen Achtungserfolg, konnte sich im literarischen Leben von Berlin, wo er seit 1905 lebte, jedoch nicht durchsetzen. Im Gefühl, gescheitert zu sein, kehrte Walser 1913 in seine Heimatstadt Biel zurück. Im Dienstbotentrakt des Hotels Blaues Kreuz mietete er sich eine Dachkammer und schuf dort unter äusserst ärmlichen Bedingungen eine grosse Zahl von Kurzprosatexten. In Schweizer Verlagen erschienen Prosastücke (1916/17), Kleine Prosa (1917), Poetenleben (1917/18) und Seeland (1920). Als Hauptwerk dieser Zeit gilt Der Spaziergang (1917). Der ebenfalls in Biel entstandene Roman Tobold blieb ungedruckt und ist heute ebenso verschollen wie ein späterer mit dem Titel Theodor.

Ab 1921 lebte Walser in Bern. Er veröffentlichte im Feuilleton, konnte jedoch, abgesehen von der Buchsammlung Die Rose (1925), keine Bücher mehr publizieren. Zahlreiche Texte, darunter der Räuber-Roman, haben sich nur in sogenannten Mikrogrammen erhalten. Es handelt sich dabei um ein grosse Zahl randvoll gefüllter Blätter mit Texten, die in winziger, fast unlesbarer Bleistiftschrift niedergeschrieben wurden – anfänglich hielt man diese für eine Geheimschrift.

Während des Ersten Weltkriegs musste Walser wiederholt Militärdienst leisten. Ende 1916 starb Walsers Bruder Ernst, der bereits einige Zeit psychisch erkrankt war, in der Heilanstalt Waldau 1919 nahm sich Walsers Bruder Hermann, Professor der Geographie in Bern, das Leben. Walser geriet in dieser Zeit zunehmend in Isolation, u.a. weil er durch den Krieg weitgehend von Deutschland abgeschnitten war. Zudem konnte er mit seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller – trotz umfangreicher Produktion – kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten. 

Walser, der seit seiner Jugend ein begeisterter Spaziergänger war, begann in dieser Zeit regelmässig lange Fusstouren, oft auch Nacht- und  Gewaltmärsche zu unternehmen. In seinen Prosastücken dieser Zeit wechseln sich solche aus der Sicht des Wanderers, der fremd durch die nahe Fremde geht, ab mit spielerischen Aufsätzen über Schriftsteller und Künstler. In der Bieler Zeit (1913–1921) lässt sich auch eine «Hinwendung zur alten-neuen Umgebung» feststellen und damit eine stilistische und thematische Verschiebung hin zu Naturbetrachtungen und Idylle.

Anfang 1921 zog Walser nach Bern, wo er für einige Monate eine Stellung als «Aushülfsangestellter» im Staatsarchiv Bern annahm. In dieser Zeit schrieb er auch den verschollenen Roman Theodor. In Bern lebte er sehr zurückgezogen und wohnte in möblierten Zimmern, die er häufig wechselte – in nur zwölf Jahren bewohnte er sechzehn verschiedene Zimmer.

Anfang 1929 begab sich Walser, der schon seit einiger Zeit von Angstzuständen und Halluzinationen geplagt wurde, nach einem geistigen Zusammenbruch auf Rat eines Psychiaters und auf Drängen seiner Schwester Lisa Walser in die Heilanstalt Waldau bei Bern. In einem Arztprotokoll heisst es: «Der Patient gibt zu, Stimmen zu hören.» Von einer freiwilligen Selbsteinlieferung kann daher vielleicht nicht gesprochen werden. In der Anstalt normalisierte sich Walsers Zustand nach einigen Wochen und er verfasste und publizierte weiter Texte, wenn auch mit Pausen und insgesamt sehr viel weniger als in den vorausgegangenen Jahren. Dabei bediente er sich weiterhin der von ihm als «Bleistiftmethode» bezeichneten Schreibweise: In kleinster deutscher Kurrentschrift, deren Buchstaben gegen Ende dieser Phase kaum mehr höher als ein Millimeter waren, schrieb er Gedichte und Prosatexte, auch Mikrogramme genannt, die er in einem zweiten Arbeitsgang auswählend und redigierend mit der Feder ins Reine übertrug. Allerdings sind nicht viele Entwürfe aus dieser Zeit erhalten, mehr Reinschriften und veröffentlichte Texte. Erst als Walser gegen seinen Willen 1933 in seinen Heimatkanton in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau versetzt wurde – und vermutlich auch, weil mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein wesentlicher Markt zur Veröffentlichung seiner Texte in deutschen Zeitungen und Zeitschriften verschwunden war –, hörte er mit dem Schreiben auf und lebte noch 23 Jahre als fast vergessener Autor. Wie die anderen Anstaltsinsassen war Walser mit der Herstellung von Papiertüten sowie mit Aufräumarbeiten beschäftigt. In seiner Freizeit las er gern Unterhaltungsliteratur. 1934 erhielt er, gegen seinen Willen, einen Vormund.

In der Heilanstalt Herisau besuchte ihn ab 1936 sein Bewunderer und späterer Vormund, der Schweizer Schriftsteller und Mäzen Carl Seelig, der später in dem Buch Wanderungen mit Robert Walser über seine Gespräche mit Walser aus dieser Zeit berichtet hat. Carl Seelig bemühte sich früh darum, den fast schon vergessenen Robert Walser durch Neuausgaben seiner Werke wieder bekannt zu machen. Nach dem Tod des Bruders Karl (1943) und der Schwester Lisa (1944) übernahm Seelig die Vormundschaft. Walser, der zwar verschroben war, aber schon lange keine Zeichen psychischer Krankheit mehr zeigte, lehnte es in dieser Zeit wiederholt ab, die Einrichtung zu verlassen.

Robert Walser liebte lange, einsame Spaziergänge. Am ersten Weihnachtsfeiertag 1956 starb er an einem Herzschlag bei einer Wanderung durch ein Schneefeld, wo er kurz darauf gefunden wurde. Die Fotografien des toten Spaziergängers im Schnee erinnern fast unheimlich an ein ähnliches Bild des toten Dichters Sebastian im Schnee aus Robert Walsers erstem Roman Geschwister Tanner.

Fotografie eines verstorbenen Robert Walsers

Obwohl von Autoren wie Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Robert Musil, Franz Kafka und Walter Benjamin hoch geschätzt, blieb Robert Walser zeit seines Lebens bei einem breiteren Publikum unbekannt. Heute gilt er als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. 

Buchempfehlung

Wanderungen mit Robert Walser

Die 2021 erschienene Neuausgabe der Wanderungen mit Robert Walser stellt den Text der Erstausgabe wieder her, ist um Fotografien erweitert, verfügt über ein neues Nachwort und liegt zugleich auf Deutsch und auf Französisch vor: Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Hrsg. von Lukas Gloor, Reto Sorg und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp 2021 (Bibliothek Suhrkamp; 1521) / Carl Seelig: Promenades avec Robert Walser. Nouvelle édition. Ed. par Lukas Gloor, Reto Sorg et Peter Utz. Trad. par Marion Graf. Genève: Éditions Zoé 2021.

Der Spaziergang «Biel aus der Sicht von Robert Walser»

Die Stadt Biel lud die Bevölkerung am 19. August 2021 zu einem geführten Rundgang – begleitet von Lesungen – entlang des Robert-Walser-Spaziergangs ein. Der fünf Kilometer lange Rundgang liess neun symbolträchtige Orte im Leben des berühmten Bieler Schriftstellers entdecken und beleuchtete so seine Beziehung zu seiner Heimatstadt.

Autorin: Doris Schöni 

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